Sensei (先生)
Der japanische Begriff Sensei (先生) bezeichnet den „vorher Geborenen“ und ist in der Alltagssprache eine respektvolle Anrede für jeden Lehrer, im budō (früher bujutsu), ein Titel, den man ab einem bestimmten Niveau tragen darf. Der Begriff wird auch für andere hohe Ränge gebraucht (z.B. Professor, Arzt, Meister usw.). Das Gegenteil zu sensei ist gakusei (Student, Studierender) oder deshi (Schüler, Lehrling).
Allgemeines
Der Begriff sensei bezeichnet im Japanischen prinzipiell einen Lehrer, der aufgrund seines Lebensalters einer jüngeren Generation an Kenntnissen, Fertigkeiten und Lebenserfahrung weit voraus ist. Obwohl der sensei immer ein Meister seines Faches ist, entspricht das Wort keinem akademischen Grad oder Titel, den man durch ein Universitätsstudium erlangen könnte. Die Bezeichnung ist vielmehr ein Ausdruck der Verehrung, mit dem man den Lehrer/Meister in dessen Gegenwart anspricht oder in seiner Abwesenheit über ihn spricht. Demzufolge wird im Japanischen in solchen Fällen das sonst übliche Personalsuffix san durch ein nachgestelltes sensei ersetzt. In den Künsten des Weges (dō) ist der sensei durch sein ganzheitliches Wirken innerhalb und außerhalb des dōjō, bei und jenseits der Übung der Formen ein Vorbild für seine Schüler, an dem diese sich orientieren, um auf ihrem eigenen Weg voranzuschreiten. Seine Lehre vermittelt ein sensei dabei nicht (nur) durch rational nachvollziehbare Erläuterungen, sondern (vor allem) durch nur intuitiv erfassbares rechtes Handeln. Damit der Schüler diese Lehre in ihrer Tiefe überhaupt verstehen kann, muss er sich um eine enge persönliche Bindung zum Meister Bemühen, die die Voraussetzung für ein „Lehren von Herz zu Herz“ (ishin denshin) ist. Besonders verehrungswürdige Meister werden in hohem Alter oder nach ihrem Ableben von den Nachfolgenden respektvoll als „hervorragender, großartiger Lehrer“ (ō sensei) bezeichnet. Der sensei gibt das in den Graden der kodansha existierende Wissen an vertrauenswürdige senpai weiter, die sich darin üben, es in der Arbeit mit ihren Schülern (deshi) anzuwenden. Obgleich die senpai sich selbst in einem Lernprozess mit dem Meister befinden, greift dieser in ihre Arbeit mit den Schülern nur dann ein, wenn das Gleichgewicht bedroht ist.
Bezeichnungen und Titel für Lehrer
Die Benennungsmotive für die Bezeichnungen und Titel der Lehrer leiten sich aus deren großer Lebenserfahrung, ihrer nachgewiesenen Lehrkompetenz, ihrer Stellung in einem hierarchischen Lehrsystem und/oder ihrer Vorbildwirkung ab. Je nach Situation und Qualifikation kann ein Lehrer unterschiedlich tituliert werden. Beispielsweise wird der Karatemeister Kanazawa Hirokazu allgemein als sensei, hierarchisch als jūdan, hinsichtlich seiner Lehrkompetenz und Vorbildwirkung als hanshi sowie in Bezug auf seine Funktion in seiner Organisation als kanchō bezeichnet. Folgende Einteilungen gibt es:
Shi – der Gelehrte
Das gemeinsame Element dieser drei aufeinander aufbauenden und durch den dai nippon butokukai etablierten Lehrerlizenzen (menkyo) ist shi (Gelehrter). Die Kategorie (siehe (shi (Begriffsklärung)) besteht aus renshi, kyōshi und hanshi. Das Wort shi bedeutet, etymologisch betrachtet, eine „Person, die alles weiß“, und steht im Japanischen allgemein für „Gelehrter“ oder „Ehrenmann“.
Shi (Gelehrter)
|
Jin – der konfuzianische Weise
Die Bezeichnungen sind selten verliehene Ehrentitel für Personen, die sich zeitlebens um die Kampfkünste verdient gemacht haben:
Jin (Weiser) – der konfuzianische Weise
|
Shihan – der Vorbildhafte
Der Begriff shihan mit seinen Varianten (shihan dai, saikō shihan und shuseki shihan) bezeichnet einen „vorbildhaften Lehrer“, Inhaber eines siebten oder noch höheren dan. Oberbegriff für den Hauptlehrer (sensei) eines Stils (ryū) oder einer Organisation (kai). Der Begriff entstammt der Tradition der koryū bujutsu, in denen die Stilvorstände (sōke), sofern notwendig, aus den am meisten Fortgeschrittenen einen Lehrmeister (shihan) auswählten, der die Weitergabe der Tradition eines ryū lenkte.
Shihan – der Vorbildhafte
|
Shidōin und Shidōshi – der Lehrer / Übungsleiter
Mit dem Begriff shidōin oder seinem Synonym shidōshi wird in den Kampfkünsten häufig ein Lehrer oder Übungsleiter bezeichnet, auf den die vorgenannten Bezeichnungen (noch) nicht zutreffen. In der Regel betrifft dies die Grade der yūdansha im Rang eines sandan oder yondan, die die Befugnis erhalten, selbstständig Schüler zu unterrichten. Als Vorstufe zum shidōin wird der „Assistenzübungsleiter“ (fuku shidōin) betrachtet, der bei der Unterstützung eines selbstständigen Lehrers erste Unterrichtserfahrungen sammeln kann. In manchen Stilen bilden die Titel shihan, shidōin/shidōshi und fuku shidōin ein aufeinander aufbauendes Lizenzsystem für Lehrer des jeweiligen ryū.
Shidōin / Shidōshi – der Übungsleiter
|
Sōke – der Familienvorstand
Der Begriff (sōke) bezeichnet eine Hauptfamilie und jene Mitglieder derselben, die innerhalb eines Klans (uji) führende Rollen einnahmen. Wurde innerhalb des Klans ein ryū praktiziert, zeichnete das Familienoberhaupt dafür verantwortlich. Demzufolge steht sōke heute noch in manchen Kampfkünsten für den blutsverwandten Haupterben einer Stiltradition. Dabei ist es nicht von erstrangiger Bedeutung, ob er diese selbst praktiziert. Er lenkt die Geschicke eines ryū und bestimmt – falls er selbst nicht (mehr) unterrichtet – einen Nachfolger und/oder einen Hauptlehrer (shihan). Heute wird das Wort häufig mit dem Begründer einer Stiltradition verwechselt, der in Japan jedoch mit den Begriffen „Urahn der Tradition“ (ryūso), „erste Generation“ (shodai) oder „neu geboren“ (shosei) bezeichnet wird.
Chō – der Leiter
Das gemeinsame Element dieser vier Begriffe ist das auslautende chō, was so viel wie „Leiter“ bedeutet. Demnach ist ein kanchō der „Direktor des Hauses“, wobei „Haus“ (kan) metaphorisch für „Stil“ oder „Verband“ verwendet wird. Fast synonym dazu ist der kaichō der „Vorsitzende einer Gesellschaft/Föderation“. Auf einer untergeordneten Ebene bezeichnet der Begriff shibuchō den Leiter einer Stilvertretung außerhalb des Haupt-Dōjō, also z.B. im Ausland, während dōjōchō das japanische Wort für den Leiter eines einzelnen Ortes der Wegübung (dōjō) ist.
Chō (Leiter) – der Vorstand
|
Der Lehrer des Weges (dō)
Der Lehrer des Weges (dō) oder der Meister, in Japan sensei genannt, hat in den asiatischen Kulturen eine andere Bedeutung als in Europa. Dort ist er nicht derjenige, der einem Schüler Wissen oder Können vermittelt, sondern derjenige, der den Weg zeigt. Dazu bedient er sich einer Kunst (jutsu, gei), deren Ziel jedoch über das Erlernen der Formen hinaus in einer inneren Auseinandersetzung besteht, woraus die Möglichkeit zum Weg entsteht. Die Lehre (oshi) eines Meisters ist daher jenen Menschen unzugänglich, die nur die Form wollen. Sie wendet sich an das dem Menschen innewohnende Potenzial zum Höherem, zum unerweckten „Meister in ihm“. Die Bezeichnung sensei bezieht sich auf einen Menschen, der sich bereits auf dem Weg befindet, um die Problematik der Weghindernisse weiß und in der Lage ist, Schüler über diese Hindernisse zu führen. Sie trifft nur dort zu, wo die Übung (geiko), die er leitet, dem Weg (dō) und nicht einer Fertigkeit zu irgendeinem Zweck dient. Auf dem Weg zielen alle zu erlernenden Techniken auf ein inneres Wachsen (shisei), und je vollendeter die Technik, umso größer wird die Forderung des Weges nach dem vollendeten Menschen. Jeder wirkliche Meister wird seine Kunst nur zu diesem Zweck verwenden.
Das Wirken des Lehrers
Meister des Weges (sensei) ist ein Mensch, wenn in seinem Ausdruck der innere Kampf um das höhere Ideal sichtbar geworden ist, nicht jedoch, wenn er bloß eine hohe Leistung vollbringen kann. Der Weglehrer ist auch kein Lehrer im herkömmlichen Sinn, der Schlecht von Recht unterscheidet und dogmatische Wahrheiten vermittelt. Er erkennt keine Thesen an, die das Resultat eines Nachahmens und Ausleihens von anderen sind, sondern zeigt den Weg zum eigenen Sehen, zum eigenen Denken, den Weg zur Befreiung aus dem Gefangensein in den Normen, Gewohnheiten und Manipulationen der Gesellschaft. Ein sensei fordert auf, nicht überprüfte Meinungen und Vorurteile zu überwinden und selbst zu denken. Sein Schüler (deshi), der diesen selbstständigen Weg lernen will, kann ihm in keiner Situation gerecht werden. Mit herkömmlichen Lernhaltungen zu einem Meister zu gehen, heißt sich ewigem Unfrieden auszusetzen. Das einzige, was den Meister interessiert, ist der Kampf des Schülers gegen sein Ich. Kein echter Meister wird einen Anfänger je als etwas Anderes betrachten als eine vom kleinen Ich verhinderte Möglichkeit zum Wachsen. Nimmt er die Verantwortung als Lehrer an, wird er das Hindernis bekämpfen.